„Achtung! Unterm Tisch liegt eine Bombe!“

Wie funktioniert Storytelling im Kino und TV? Das wollten wir von Polizeiruf-110-Regisseur Jakob Ziemnicki wissen – der u.a. Krimis und Thriller dreht. Wo ist das „Ein-Colt-für-alle-Fälle-Gefühl“ hin? Wann sollte ein Zuschauer mehr wissen als der Kommissar? Wieso wurde aus dem „Joker“ ein Blogbuster? All das erfahren Sie hier, im ersten Teil unserer Serie „The Master Narrators“

Der Begriff Storytelling wird von vielen benutzt – aber oft wenig trennscharf verwendet. Was verstehst Du als Kino- und Fernsehregisseur unter Storytelling?

Im weitesten Sinne ist Storytelling für mich Geschichtenerzählen – im Grunde genommen egal in welchem Medium. Im engeren Sinne beinhaltet der Begriff in meinen Augen verschiedene Techniken, wie man Geschichten für ein Publikum möglichst emotional und interessant erzählt. 

Storytelling hat die Art wie heute Werbung gemacht wird, stark verändert. Was hat Storytelling genau bewirkt? 

Storytelling bringt mehr szenisches Erzählen, mehr Emotion, weniger Produkt. Das Gefühl, der Lifestyle wird wichtiger als das eigentliche Produkt, dadurch gewinnt  paradoxerweise die Marke an Strahlkraft. Die Werbung tarnt sich sozusagen als Erzählung und wird wenn man so will: cool. Ich denke da an die Fußball Kampagnen von Nike oder die Spots von Levis. In Deutschland hat in meinen Augen Detlev Buck einige herausragende Werbungen für Flensburger Pilsner gemacht und auch für Hagebau.

Die Art, wie wir alle in den letzten Jahren Filme sehen, hat sich stark verändert. Wir streamen Filme und Serien – und das Angebot ist unendlich. Erzählt ein Regisseur in einer Serie anders?

Die große Veränderung hat in meinen Augen eigentlich schon mit dem Erstarken des Fernsehens gegenüber dem Kino begonnen. Filme wurden dadurch Zuhause erlebbar. Man musste sich nicht mehr auf den Weg ins Kino machen. 

Dieser Weg war aber Teil der Magie des Kinos. Lange Zeit war ein Kinobesuch fast noch gleichgesetzt mit dem Theater- oder Opernbesuch. Es war etwas Besonderes. Als ich Anfang der 80er Jahre meine ersten Kinobesuche erlebt habe, habe ich diese Magie noch voll gespürt. Der inflationäre Anteil an fiktionalen Inhalten im TV hat dann zunehmend dem Kino Konkurrenz gemacht; teilweise auch völlig zurecht. Es gibt immer wieder herausragende Fernsehfilme. 

Das Streaming Zeitalter hat das Kino dann noch stärker in Bedrängnis gebracht;  vor allem die unendliche Flut an Angeboten, jeglicher Genres und Formate. Was in meinen Augen aber beinah schlimmer wiegt, ist die uneingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit. Das macht auf lange Sicht die Filme und Serien ein Stück beliebig. Es nimmt ihnen das Besondere, das Limitierte. Wir alle hatten doch früher als Kinder unsere Lieblingsserie, bei mir war es „Ein Colt für alle Fälle“, da saß ich pünktlich vor dem Fernseher, um bloß nichts zu verpassen. Und wenn ich dann mal bei Omas Geburtstag sein musste anstatt vor der Flimmerkiste, war der Tag gelaufen. Unsere Kinder kennen das nicht mehr. Alles ist immer und überall verfügbar. Heute gibt es dieses Phänomen eigentlich nur noch bei Live Events wie Fußball, evtl. noch Live-Shows wie dem ESC oder der Berichterstattung zu Bundestagswahlen. 

Was das Storytelling an sich angeht, sehe ich die Veränderungen nicht so sehr in den Streamingdiensten begründet, als im grundsätzlichen Unterschied zwischen Film und Serie. Also ob ich eine klassische 3-Akt-Geschichte mit einem einzigen klaren Protagonisten erzähle, der ein bestimmtes Ziel verfolgt – oder ein Ensembel-Geschichte erzähle, eine Serie.

Hinzu kommen dann, jedenfalls im klassischen Fernsehen, aber auch zunehmend bei den Streamern, Vorgaben was Sendeplätze und Publikum angeht, und die Quote als ultimatives Berechtigungs-Momentum. Völlig unabhängig davon wie die Qualität schlussendlich ist, wenn die Quote stimmt, hat man eigentlich alles richtig gemacht. Und damit will ich nicht sagen, dass die Sender alles der Quote opfern. Klar wird überall versucht, gute Filme und Serien zu machen. Allerdings läuft man mit dem verengten Blick auf Sendeplatz und Publikumsgunst Gefahr, die eigentliche Erzählung aus dem Blick zu verlieren. Es geht nicht mehr darum, was richtig für die Erzählung wäre, sondern was vermeintlich richtig für Sendeplatz, Publikum, Quote ist. Wenn man aber permanent versucht ein Maximum an Zuschauern zu erreichen, ist man zwangsläufig zu Kompromissen verdammt, denkt, dass man alles erklären muss und dann auch noch oft mit Hilfe von Dialog statt Bild.  Das führt in meinen Augen zu einer konstanten Unterforderung des Zuschauers. Die ursprüngliche Kunst der Filmerzählung, nämlich visuell zu erzählen, geht so verloren. Ingmar Bergmann hat einmal gesagt: In den ersten 20 Minuten eines Kinofilms kannst Du machen was Du willst. 

Was meinte er damit?

Dass man im Kino als Filmemacher einen Vorschuss hat. Der Zuschauer hat ein Ticket gekauft, Popcorn, Eis, ein Getränk. Er hat die Werbung ertragen. Und dann geht es los. Die Leinwand wird noch größer, das Licht geht aus. All das führt dazu, dass man das Kino nicht einfach so nach ein paar Minuten wieder verlässt. Der Film muss schon wirklich sehr schlecht sein. Im Fernsehen ist das natürlich anders. Da muss man den Zuschauer in den ersten Minuten haben, sonst zappt er weg. Insofern verstehe ich ja die Logik der Fernsehanstalten. Wenn man eine hohe Quote will, darf niemand wegzappen, der kommt nämlich nicht zurück. Übrigens ist das komischerweise beim Streaming schon wieder anders. Da hat es sich inzwischen fast eingebürgert, dass man den Serien mindestens zwei zumeist sogar drei Folgen Zeit schenkt. Also auch wieder einen Vertrauensvorschuss gibt. Insofern wurde hier das Publikum auch wieder auf einen Art erzogen, eine Sehkonvention vereinbart zwischen Filmemacher und seinem Publikum.

Medienmachern klagen oft, dass das Publikum immer dümmer wird. Wie siehst Du das?

Man darf den Zuschauer nicht unterfordern, da bin ich ganz sicher. Ich glaube auch, dass er viel mehr „aushält“, als angenommen wird. Meine Schwiegereltern beispielsweise sind große Mad Men Fans. Das ZDF hat die Serie aber auf ZDF Neo nach 22 Uhr gesendet. Warum? Weil sie annahmen, dass Mad Men dem ZDF-20:15-Publikum nicht zumutbar wäre, es überfordert.  Wenn wir so weiter machen wie bisher, verlieren wir immer mehr Publikum, zumeist das junge.  Vor allem wird aber aus der Kunstform Film und da schließe ich jetzt ganz bewusst auch die Fernsehfilme und Serien mit ein, ein reines Konsummedium. Daran hat allerdings auch das Streaming mit seinem Binge Watching einen großen Anteil. So sehr es auch Spaß macht mehrere Stunden in andere Leben und Welten einzutauchen, so sehr konsumieren wir dann zum Teil bloß nur noch, werden geradezu maßlos darin. Folgen verschwimmen, Wendepunkte verwischen, Feinheiten verblasen. 

Warum funktionieren Serien denn beim Publikum Deiner Meinung nach so gut?

Ich glaube, wir schauen Serien in den seltensten Fällen nur wegen der Story, sondern immer wegen der Charaktere. Sie faszinieren uns, oder stoßen uns ab, begeistern uns und nach ein paar Folgen werden sie so etwas wie Freunde. Und bei jeder neuen Folge treffen wir diese guten Freunde wieder. Nur deswegen habe ich dann doch „Lost“ zu Ende geschaut, obwohl es irgendwann ziemlich doof wurde. Eine spannende Story alleine reicht nicht. Selbst Serien wie „24“, die ja geradezu von der Echtzeit-Story leben, funktionieren auf lange Sicht nur über die Charaktere mit all ihren Sorgen und Nöten, ihren Neurosen, Macken, Fehlern, ihren Träumen und Wünschen. Daran können wir andocken, uns identifizieren oder davon abgestoßen werden. Letztlich ist das das Wichtigste: Der Zuschauer muss in eine emotionale Beziehung zu den Figuren treten. 

Bei „The young Pope“, der Vatikan Serie von Kino-Regisseur Paolo Sorrentino, ist das geradezu exemplarisch. Die Serie lebt von dieser sehr ungewöhnlichen Hauptfigur, einem jungen Papst, der dann auch noch derart gut aussieht, weil er von Jude Law gespielt wird. Klar der Blick hinter die Mauern des Vatikans mit all seinen Intrigen und die übrigen Charaktere sind auch sehr interessant. Aber am Ende will man wissen was es mit diesem jungen Papst auf sich hat. 

Guckst Du privat viele Serien?

Eigentlich schon, aber ich muss zugeben, dass sich bei mir zunehmend eine gewisse Müdigkeit eingestellt hat. Im Moment faszinieren mich die Mini-Serien. Also Serien, die nur auf einen Staffel angelegt sind, manchmal auch nur vier mal 50 Minuten lang sind und meistens ein klares Ende haben. Ich habe das Gefühl, dass man ganz anders erzählt, wenn man weiß das es ein Ende gibt und vor allem welches. Es gibt da eine Menge tolle Serien. „Die Wege des Herren“ von Adam Price, dem „Borgen“ Schöpfer, oder ganz aktuell die HBO Serie „I know this much is true“ mit Marc Ruffalo in einer Doppelrolle. Das ungeschlagene Highlight der letzten zwei Jahre war für mich allerdings „Il Miracolo – Ein Wunder“, eine Sky Italia Arte France Koproduktion, erschaffen von dem italienischen Bestseller Autor Niccolò Ammaniti. Es geht im weitesten Sinn darum, wie eine Blut-weinende Marienstatue das Leben zahlreicher Menschen völlig aus den Fugen bringt. Darunter sind der italienische Premierminister, der mit dem drohenden Italo-Exit zu kämpfen hat, sein Geheimdienst Chef, der geradezu fanatisch nach dem Ursprung der Statue sucht, eine Wissenschaftlerin, die anhand des Blutes, die DNA eines göttlichen Wesens entschlüsseln will und natürlich ein gefallener katholischer Priester, der durch dieses Wunder den Glauben wiederfindet. All diese Figuren sind großartige, starke Charaktere. Dazu noch das Thema Glaube, mit all seinen Facetten und Fragen: Woran glauben wir heutzutage noch?

Was meinst Du mit „starke Charaktere“?

Bei „Il Miracolo“ sind  all diese Figuren extrem gebrochen, vielschichtig, mehrdimensional. Sie alle suchen sehnsüchtig nach dem Sinn im Leben. Das macht diese Figuren so menschlich und gleichzeitig die Geschichte so universell. 

Was macht denn einen guten Protagonisten in einem Film aus?

Ich finde eine Figur muss immer eine Art von Gefühl in mir als Zuschauer auslösen. Ich muss etwas für sie hoffen und um sie fürchten. Ich muss sie verstehen und ihre Gefühle nachempfinden können. Spannend wird es dann, wenn die Figur noch zugleich unberechenbar ist. So wie der Joker zum Beispiel in der Verfilmung mit Joaquin Phoenix. Der ganze Plot entsteht im Grunde genommen aus seiner Hauptfigur heraus. Hier und da gibt es kleine Piekser von außen, die ihn anschupsen und zum Handeln bringen. Character is action, not talking, heißt es in dieser Hinsicht ziemlich passend in den amerikanischen Büchern über das Drehbuchschreiben.

Bedeutet?

Ich erfahre etwas über eine Figur, weil ich ihr zusehe, wie sie Dinge tut (manchmal auch nicht tut) und nicht weil ich ihr zuhöre und Alles nur über Dialog erzählt wird. Das bedeutet allerdings auch, dass man mehr Szenen braucht, also auch mehr drehen muss, also auch mehr Drehtage braucht, etc., was dann in dem engen Rahmen der deutschen Fernsehfilme schwierig ist. Dem Zuschauer verlangt es wiederum mehr Geduld ab. Er muss sich auch auf die non-verbale Handlung einlassen und er muss das Handeln der Figur entschlüsseln und erkennen, wofür es emotional steht. Wenn wir aber ständig alles durch Dialog erzählen, verliert der Zuschauer nach und nach diese Fähigkeit oder auch die Geduld sich darauf einzulassen. Es ist ja auch einfacher, die Dinge gesagt zu bekommen, anstatt sie sich selber zu erschließen. In meinen Augen ist es aber auch um ein Vielfaches langweiliger. 

Hast Du ein Beispiel dafür?

Exemplarisch ist für mich die Szene, in der der Joker in der U-Bahn-Toilette tanzt, nachdem er das erste Mal getötet hat. Regisseur Todd Philips lässt Joaquin Phoenix zwei Minuten lang tanzen, in Zeitlupe, begleitet von Cello-Musik. Das ist Kino.

Trotzdem seltsam, dass so eine extreme Figur wie der Joker so ein großes Publikum fasziniert.

Nein, überhaupt nicht. Hier wird zwar etwas ganz Spezifisches erzählt, aber es hat einen allgemeinen Kern. Der Joker ist ganz klar eine extreme Figur, ein Freak, der eine Art Lach-Tic hat. Norman Bates gleich lebt er mit seiner psychisch kranken Mutter. All das ist dem normalen Zuschauer fremd, ist ungewöhnlich, vielleicht auch abstoßend oder bemitleidenswert. Zugleich weckt diese Figur von Beginn an eine große Empathie in uns als Zuschauer. Dieser Joker schreit geradezu nach Liebe und Zuspruch. Dieses Gefühl, diese Sehnsucht kennen wir alle. Es ist ein universell menschliches Thema. Und deshalb funktioniert dieser Film überall, egal ob in Guatemala oder in Russland.

In der Logik der sogenannten Heldenreise, einem Erzählraster das von Joseph Campbell in den 40er Jahren entdeckt wurde, braucht jede Figur einen Gegner. Stimmt das für jede Geschichte?

Die Heldenreise funktioniert nach wie vor und wird es wahrscheinlich auch immer tun, wie sie es ja schon die letzten zweihalbtausend Jahre tut. Aber sie funktioniert nicht für alle Filme und beim seriellen Erzählen mit vielen gleichberechtigten Figuren nur bedingt. Natürlich sollte jede komplexere Figur bestenfalls einen eigenen Bogen, mit Anfang, Mitte und Ende haben, eine Art Mini-Heldenreise. Selbst Nebenfiguren in klassischen Filmen sollten das haben, auch wenn es im Filmischen-On gar nicht wirklich erzählt wird. Es macht trotzdem etwas mit dem Schauspieler, der die Figur spielt und somit mit der Figur und dann auch mit dem Zuschauer. So kann man vermeiden, dass Figuren rein funktional werden, so verfolgen sie obwohl sie vermeintlich „nur“ eine Nebenfiguren sind, eine eigene Agenda, ein eigenes Ziel und werden dadurch plastisch, dreidimensional, interessant. 

Brauchen Figuren einen Gegner?

Ein guter und origineller Antagonist ist natürlich Gold wert. Was wäre Luke Skywalker ohne Darth Vader, was wäre Robin Hood ohne den Sherriff von Nottingham, vor allem wenn er von Alan Rickman gespielt wird? Aber das ist nur ein Aspekt. In gewisser Hinsicht muss auch in dem Helden, dem Protagonisten selbst eine Art innerer Antagonist stecken. Das kann man dann Konflikt nennen. Zwei widerstrebende Wünsche. Oft wird in amerikanischen Büchern über das Drehbuchschreiben dann von Need und Want gesprochen. Also vom Ziel und vom Bedürfnis. Das Ziel ist oft äußerlich und das Bedürfnis innerlich. Also das was der Protagonist unbedingt will und das was er eigentlich für seine Seele, sein Herz braucht. Und je unmöglicher das Ziel ist, desto größer wird die Dramatik.  Anfang des Jahres habe ich den diesjährigen Oscar-Anwärter-Film aus Polen gesehen „Corpus Christi“ von Jan Komasa. Ein junger Mann wird aus dem Jugendknast entlassen. Dort hat er den Weg zum Glauben wiedergefunden und würde am liebsten aufs Priesterseminar gehen.  Das kann er aber nicht auf Grund seiner Vorstrafe. Durch einen Zufall wird er in einem abgelegenen Dorf für einen jungen Pfarrer gehalten. Und tatsächlich bittet der alte Vikar den jungen Mann ihn zu vertreten, während er auf Kur geht. Anfangs zögert der junge Mann, dann wird er immer mehr zum besten Priester, den sich diese Gemeinde nur wünschen kann.  Doch natürlich kann es nicht gut gehen. Der Film hat mich unglaublich bewegt, weil auch er wieder eine sehr spezifische Geschichte sehr universell erzählt. Jemand versucht verzweifelt gut zu sein, es gelingt ihm, doch die Welt lässt ihn nicht und er wird geradezu gezwungen am Ende wieder böse zu werden, um zu überleben. Soweit ich weiß, sollte der Film eigentlich im Juli auch in Deutschland in die Kinos kommen. Sehr sehenswert.

Wie erzeugst Du in deinen eigenen Filmen Spannung? 

Das ist ein weites Feld und hängt wirklich sehr stark vom Genre ab. Bei den Krimis die ich gedreht habe, ging es im Vorfeld und auch noch im Schneideraum oft darum wieviel Informationsvorsprung wir dem Zuschauer gegenüber den Kommissaren geben sollten. Zum einen sorgt ein derartiges Vorwissen für ein Gefühl von Suspens, zum anderen dürfen die Kommissare dadurch aber auch nicht zu doof wirken.  Alfred Hitchcock hat immer das Beispiel mit der Bombe unter dem Tisch gebracht. Das veranschaulicht es ganz gut. Zwei Männer sitzen an einem Tisch im Café und sprechen über Baseball. Plötzlich explodiert unter dem Tisch eine Bombe. Der Zuschauer kriegt einen riesen Schreck. Wenn der Zuschauer allerdings von Anfang an weiß, dass unter dem Tisch im Café eine Bombe klebt und die beiden Männer unterhalten sich über Baseball, dann schafft man Suspense. Man will geradezu auf die Leinwand rufen: „Hört doch auf über Baseball zu reden, unter dem Tisch ist ein Bombe!“ In den 90ern wurde aus dieser Situation sogar ein super erfolgreicher Hollywood Blockbuster „Speed“ mit Keanu Reeves und Sandra Bullock. 

Trotzdem funktioniert das für mich noch besser, wenn der Zuschauer in irgendeiner emotionalen Beziehung zu den Figuren steht. Wenn ich zum Beispiel zu den beiden Männern im Café mit der Bombe unter dem Tisch gar kein Verhältnis habe, in keiner emotionale Beziehung stehe – dann interessiert es mich eigentlich nicht wirklich, ob die Bombe explodiert oder nicht. Bestenfalls erschrecke ich mich. Wenn ich aber über den einen Mann beispielsweise weiß, dass er seine Frau betrogen hat und gerade alles dransetzt, um sie wieder zurückzuerobern, um seine Familie zu retten, und unter dem Tisch ist die Bombe! Dann entsteht emotionale Spannung und keine rein äußerliche. Dann bin ich wirklich dabei, weil der Held oder die Figur eine emotionale Mission hat, für ihn mehr auf dem Spiel steht, als sein eigenes Leben. Deshalb habe ich bei den Polizeirufen, die ich für den RBB gedreht habe, auch immer versucht, das gewisse Mehr zu finden, als lediglich die Beantwortung der Frage, wer der Mörder ist. Wir haben versucht die handelnden Personen, inklusive der Kommissare, in emotionale Nöte zu bringen, so dass der Zuschauer ab einem gewissen Punkt nicht mehr nur wissen will, wer der Mörder ist, sondern wie das Ganze für alle Beteiligten ausgehen wird, wie sie emotional aus dem Film gehen werden; zerstört, heil oder emotional arg angeschossen.

Findet „Geschichten erzählen“ auch außerhalb Deiner Arbeit als Drehbuchautor und Regisseur in Deinem Leben statt? 

Ja klar, ich lese meinen Kindern Geschichten vor, zurzeit die Bücher von Roald Dahl, also z.B. James und der Riesenpfirsich, Charlie und die Schokoladenfabrik oder der fantastische Mr. Fox. Ich selbst war als Kind kein besonders fleißiger Leser. Ich habe mehr Hörspiele auf Schallplatte gehört, Winnetou, Die Schatzinsel, Robinson Crusoe usw. Wahrscheinlich habe ich schon damals im Kopf mein eigenes privates Kino ablaufen lassen. Umso schöner, dass ich jetzt all diese Schätze der Kinder- und Jugendliteratur mit meinen eigenen Kindern nachholen kann.  Das macht wirklich sehr viel Spaß und ich lerne auch hier wieder so viel über gute Geschichten, über Emotionen, über Storytelling.

Die Fragen stellte: York Pijahn, Narrative Impact